Am Darßer Weststrand, Teil des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft, reicht der Wald bis an die Ostseeküste. Bei Stürmen schwappt das Meer bis in die Bäume hinein und reißt auch mal Bäume mit sich.
Am Abend des 12. September 1990 beschloss der DDR-Ministerrat in seiner allerletzten Sitzung, 14 große Naturlandschaften unters Schutz zu stellen. Dazu gehörten die fünf Nationalparks Jasmund auf Rügen, der Harz, Müritz, Sächsische Schweiz und die Vorpommersche Boddenlandschaft. Militärische Sperrgebiete wurden aufgehoben und Grenzanlagen abgebaut. So entstanden einige der größten zusammenhängenden Wildgebiete Mitteleuropas, die sich weitgehend ungestört vom menschlichen Einfluss entwickeln dürfen. Sie bieten wichtige Rückzugsräume. Auch für Tiere, die in Deutschland schon fast ausgestorben waren, wie der Wolf oder der Biber. Auch Zugvögel wie Kraniche oder Gänse nutzen die Wildgebiete als natürliche Inseln in den vom Menschen genutzten Landschaften, wo sie rasten und brüten können.
Der Fotograf und Biologe Axel Gomille hat einige dieser Gegenden besucht und den Bildband „Deutschlands Wilder Osten“ herausgegeben. Seine Reise führte ihn unter anderem in den Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft – eine für Deutschland einzigartige Landschaft.
Im Schilf in der Vorpommerschen Boddenlandschaft finden Rothirsche ideale Bedingungen. Sie benutzen regelmäßig die gleichen Wechsel und halten so Raum für Vegetation und Kanäle offen.
Dort wird die Küste vom Meer und den Gezeiten ständig neu geformt. Die Strömungen tragen den Sand ab, der sich wiederum weiter nördlich zu neuen, völlig naturbelassenen Sandbänken formt. Diese durchbrechen die Wasserlinie, verbinden sich im Laufe der Jahre zu kleinen Inseln und schließlich mit dem Festland. Dazwischen entstehen neue Seen und Sumpflandschaften, in denen sich Süß- und Salzwasser vermischen. Es wachsen Schilfe und Dünengräser und mit der Zeit auch größer Pflanzen. „Hier sieht man Hirsche vor der Ostsee, was für Deutschland ziemlich einzigartig ist“, wie Axel Gomille berichtet. Zudem lassen sich hier zehntausende von Kranichen und Gänsen während des Vogelzugs nieder.
Wer einige Kilometer ins Landesinnere geht oder mit Rad fährt, findet zunehmend Bäume und schließlich Wälder, wo vor 20 Jahren noch Sümpfe waren. „Auch die Bereiche, die jetzt noch gar nicht bewaldet sind, werden schon von vielen Tieren genutzt. Es ist ein dynamisches System. In jedem Abschnitt finden Tiere Lebensräume.“
Kraniche schätzen weite Wiesenlandschaften zum Rasten. Dort sind sie meist ungestört und können Gefahren schon von Weitem erkennen. In der Paarungszeit im Frühjahr kann es zu kleineren Streitigkeiten zwischen den Tieren kommen.
Truppenübungsplätze scheinen mit ihren Rückständen von Munition und Granaten zunächst keine besonders geeigneten Wildgebiete zu sein. Doch es handelt sich meist große zusammenhängende Flächen, in Ostdeutschland haben sie durchschnittlich 100 Quadratkilometer. Im Jahr 2000 kam es auf dem Übungsplatz Oberlausitz zu einer Sensation. Dort hatten sich Wölfe niedergelassen, die aus freien Stücken aus Polen zugewandert waren und sogar Nachwuchs bekamen. Nachdem der Wolf in Deutschland lange ausgestorben war, hielt man eine solche Rückkehr kaum für möglich. Mittlerweile haben sie sich in weiteren Teilen Deutschlands ausgebreitet. Ihre Population ist mit über 400 Tieren wieder stabil.
Nachdem die Raubtiere lange Zeit von Landwirten als Gefahr für ihre Herden gesehen wurden, zeigt sich mittlerweile, dass sie ihren Beitrag zu einem gesunden Ökosystems leisten. „Die Wölfe bringen Unruhe in einen Wald“, wie Gomille berichtet. Rehe und andere Tiere müssten vorsichtiger sein, könnten nicht immer an den selben Stellen fressen. Dadurch hätten junge Pflanzen die Chance zu wachsen und nicht gleich abgeknabbert zu werden.
Tatsächlich ernähren sich Wölfe nach Untersuchungen des Senckenberg Museums für Naturkunde zu 94 Prozent von wildlebende Huftiern, darunter vor allem Rehe, Hirsche und Wildschweine. Nur 1,6 Prozent ihrer Beute machen Nutztiere aus. Gegenüber dem Menschen sind sie in der Regel sehr scheu, was sich auch auf die Arbeit von Gomille auswirkt: „Um Wölfe zu fotografieren, muss ich immer auf Wind achten. Sie sind super empfindlich. Sie wollen Menschen nicht begegnen.“
In Deutschland leben wieder über 400 Wölfe. Hier bettelt ein Welpe bei einem älteren Rudelmitglied zu aufdringlich nach Futter, bis der Größere ihn schließlich mit entblößten Zähnen zurechtweist.
Wölfe sind die wohl bekanntesten Beispiele für die Rückkehr von bedrohten Arten. Doch Gomille meint: „Im Windschatten der Wölfe haben sich auch viele andere Arten erholt. Der Bestand an Seeadlern, Fischadlern und Kranichen hat extrem zugenommen. Alles Arten, die vom Aussterben bedroht waren. Auch Biber und Fischotter sind zurückgekommen.“
Diese Tiere tragen auch dazu bei, bestehende Ökosysteme umzugestalten und so für weitere Arten zugänglich zu machen. Der Biber sorgt mit seinen Dämmen dafür, Wasser aufzustauen und kleine Inseln von Totholz anzusammeln, wovon wiederum Frösche, Libellen oder Fische profitieren.
Dort, wo man die Natur sich selbst überlässt, findet sie erstaunlich schnell Möglichkeiten, sich die Räume zurückzuerobern, selbst in früheren Monokulturen. Wenn etwa große forstwirtschaftliche Fichtenbestände von Borkenkäfern befallen werden und absterben oder von Stürmen umgeknickt werden, ist dies für die Natur keineswegs dramatisch. Es ist vielmehr der Beginn einer neuen Wildnis, eines natürlichen Waldes, der artenreicher und widerstandsfähiger sein wird als bisher – sofern der Mensch ihn lässt.
Gewiss gibt es nicht viele Gegenden, die als Wildgebiet in Frage kämen. Deutschland ist eines der am dichtesten besiedelten Länder der Erde, mit einer intensiven Nutzung fast sämtlicher Flächen. Doch schon relativ kleine naturbelassene Bereiche können es mobilen Tieren wie Wölfen oder Vögeln ermöglichen, sich zwischen den Inseln der Wildnis zu bewegen und an verschiedenen Orten Rückzugsräume zu finden. Tatsächlich hatte die Bundesregierung geplant bis 2020 in Deutschland zwei Prozent der Flächen der Wildnis zu überlassen. Letztlich erreichte man gerade mal 0,6 Prozent. Lediglich Mecklenburg-Vorpommern kommt dem Ziel mit 1,58 Prozent etwas näher. Dabei sind gesunde Ökosysteme mit einer großen Artenvielfalt für den Menschen sehr wichtig: als Erholungsräume, als Speicher für CO2, als Schutz vor Überschwemmungen oder zur Regulierung des Wasserhaushaltes. Dass trotz der dichten Besiedelung viele Arten in Deutschland zurückgekehrt sind, zeigt die Potenziale des Umweltschutzes. „Ein absolut bemerkenswerter Erfolg“, wie Gomille findet.
Die Sächsische Schweiz ist ein beliebtes Ausflugsziel mit seinen spektakuläre Ausblicken. In den Nischen der Felsen leben viele Tiere wie etwa Turmfalken, die hier natürliche Brutplätze finden.